Diese Seite drucken
Artikel bewerten
(0 Stimmen)
Mittwoch, 28 Januar 2015 00:00

Arbeitsgruppe im Portrait: Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen Lüneburg Empfehlung

InVitroJobs stellt regelmäßig Wissenschaftler und ihre innovativen Forschungen als „Arbeitsgruppe im Portrait“ vor. Im Fokus stehen neu entwickelte Methoden, ihre Evaluation sowie der Ausblick, welche tierexperimentellen Versuchsansätze gemäß dem 3R-Prinzip (reduce, refine, replace) nach Möglichkeit reduziert und bestenfalls ersetzt werden können.
An dieser Stelle stellen wir ein Institut vor, das sich mit der Frage des Verbleibs organischer Stoffe in der Umwelt und deren Bewertung beschäftigt. Institutsleiter ist der Chemiker Prof. Dr. Klaus Kümmerer.

 


Arbeitsgruppe im Portrait:
Professur für Nachhaltige Chemie und stoffliche Ressourcen
an der Leuphana Universität Lüneburg


An dieser Stelle stellen wir ein Institut vor, das sich mit der Frage des Verbleibs organischer Stoffe in der Umwelt und deren Bewertung beschäftigt. Institutsleiter ist der Chemiker Prof. Dr. Klaus Kümmerer. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nachhaltige Chemie, Stoffliche Ressourcen und Spurenstoffe in der aquatischen Umwelt. Prof. Kümmerer sucht nach neuen Eigenschaften für Arzneimittel mit dem Ziel, sie in den Flüssen und Seen abbaubar zu machen. Dafür werden vor allem Computer-basierte Methoden eingesetzt. Mit der Modellierung und Bewertung der globalen Schadstoffverbreitung ist zusätzlich ein Kollege betraut.

 


 

Eine Mitarbeit am Institut für Nachhaltige Chemie und Umweltchemie setzt die Bereitschaft zu unkonventionellen Ideen und interdisziplinärem Arbeiten voraus. Geforscht wird in einem inter- und transdisziplinären Umfeld der Fakultät für Nachhaltigkeit – mit nationalen und internationalen Partnerschaften.
Foto: Copyright@M. Busch/Leuphana Universität Lüneburg

Dabei werden neue Moleküle bewährter Arzneistoffe und Chemikalien am Computer mit gleicher Wirksamkeit, aber besserer Umweltverträglichkeit entworfen und ihre Eigenschaften berechnet. Nachdem die neue Substanz dann synthetisiert worden ist, erfolgen In-vitro Umweltverträglich-keitstests mit Hilfe von Bakterien, in denen der biologische Abbau überprüft wird.

Mit UV-Licht wird die photolytische Abbaubarkeit getestet. Die Substanz wird dann auf ausgewählte unerwünschte Nebenwirkungen, z.B. Mutagenitäta und Gentoxizitätb getestet.

Die Forschung berührt einen wichtigen Aspekt der sogenannten „Sustainable Chemistry“: Durch ein verbessertes Molekül- und Prozessdesign wollen Wissenschaftler eine mögliche Gefährdung durch Chemikalien, zu denen auch Human- und Veterinärarzneimittel gehören, reduzieren und somit eine Umweltbelastung von vornherein verhindern. Dies kommt auch Versuchstieren zu Gute, die in Ökotoxizitätstests eingesetzten werden.


Green Chemistry

Im Jahre 1998 wurden die 12 Principles of Green Chemistry1,2 der amerikanischen Chemiker Paul Anastas und John C. Warner veröffentlicht. Eines dieser 12 Prinzipien ist die Gefährdungsreduzierung durch Entwicklung von Synthesemethoden zur Minimierung der Toxizität bei der Herstellung von Chemikalien. Ein weiteres wichtiges Ziel ist das Design von Molekülen, die vollständig abbaubar sind.




In Flüssen und Seen, aber auch vereinzelt in Trinkwasser finden sich Arzneimittel und andere Spurenstoffe

Kleine Moleküle befinden sich quasi in allen Gewässern. Sie lassen sich durch die Abwasserreinigung oft nur zu einem geringen Teil herausfiltern. Oft stammen sie aus Haushalten und gelangen über die Toilette in die Gewässerkette. Flüsse und Seen sind voll von Arzneimittelrückständen, wenn auch in geringer Konzentration. Etwa 150 Arzneimittelwirkstoffe haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mittlerweile in Oberflächengewässern, Sedimenten, Grundwasser und Böden nachgewiesen3. Vor allem Schmerzmittel, Antibiotika und Psychopharmaka belasten unsere Umwelt.

2007 wurden allein in Deutschland 344.880 Kilogramm des Schmerzmittels Ibuprofen verbraucht4. Und dabei müssen die Haushalte nicht unbedingt ihre Altmedikamente in der Toilette entsorgt haben. Es reichen die täglichen Ausscheidungsprodukte, die in die Abwässer gelangen und nachfolgend in die Oberflächengewässer eingespült werden. Gerade einmal zehn Prozent aller Oberflächengewässer Europas sollen gemäß einer Studie5 als "sehr sauber" eingestuft worden sein. Aber nicht nur in Oberflächengewässern lassen sich Arzneimittelrückstände finden, sondern auch in Böden, Grund- und vereinzelt auch im Trinkwasser. In die Böden werden Rückstände von Tierarzneimitteln über die Gülle aufgebracht3. Sie schädigen nachweislich die Umwelt, denn sie bleiben für lange Zeit in der Umwelt bestehen.

 

Ausscheidungsprodukte gelangen täglich in die Abwässer und enthalten Arzneimittelreststoffe, die Kläranlagen bei der Abwasserreinigung nicht herausfiltern.
Fotos v.l.n.r.: saksrifotolia, Fotolia.com; Dieter Schütz, pixelio.de


Auf schädigende Effekte, z.B. auf die Verweiblichung von Fischen und reduzierte Fertilität von Organismen haben Ökotoxikologen schon vor Jahren hingewiesen. Der langfristige Einfluss sogenannter endokrin wirksamer Substanzen – und Resten der Antibabypille oder von Hormonersatztherapien sind ja auch nichts anderes – auf eine mögliche Entstehung von Humankrankheiten werden seit längerem diskutiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 2013 zu den Wirkungsmechanismen der endokrin wirksamen Substanzen neue Studien gefordert6. In Deutschland fördert z.B. die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (BDU) unter dem Namen „nachhaltige Pharmazie“ Projekte, die sich mit der Abbaubarkeit von pharmazeutisch wirksamen Substanzen befassen. Einen kurzen Überblick mit Videofilmen über die Problemlage gibt es hier. Am Beispiel des Psychopharmakons Oxazepam haben Wissenschaftler vor kurzem festgestellt, dass die Substanz die Lebensdauer von Flussbarschen verlängern kann. Sie schlussfolgerten, dass die Substanz in gewissen Grenzen einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Fischpopulation haben könnte und forderten eine Ausweitung ökotoxikologischer Tests auch auf gesundheitsverbessernde Einflüsse von Substanzen auf Spezies einer Population7.


Nachhaltigkeit

Unter Nachhaltigkeit versteht man, die Bedürfnisse der heute Lebenden mit den Entwicklungsoptionen künftiger Generationen in Einklang zu bringen8. Es sollte nur so viel „verbraucht“ werden, dass den zukünftigen Generationen noch die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, also nicht auf Kosten zukünftiger Generationen gewirtschaftet wird9.

Nachhaltige Chemie im Speziellen bedeutet die Nutzung stofflicher Ressourcen und deren Umwandlung ohne Schaden für zukünftige Generationen, beinhaltet aber auch soziale und ökonomische Fragen im Zusammenhang mit chemischen Produkten.






Foto: R_K_B_by_Denise, Pixelio.de


Für jedes neue Medikament muss eine Umweltrisikobewertung des Wirkstoffes durchgeführt werden3. Die Umweltgesetzgebung findet auch auf Arzneimittel Anwendung. Grundlage ist die europäische Wasserrahmenrichtlinie, umgesetzt in deutsches Recht durch das Wasserhaushaltsgesetz (WHG). In Ökotoxizitätstests wird die Schadwirkung auf Umweltorganismen (aquatische Organismen und ggf. Boden- und Sedimentorganismen) getestet10, 11.

 
Ökotoxikologie und Methoden

Wäre man in der Lage, „grüne Pillen“ herzustellen, die nachweislich vollständig biologisch abbaubar sind, wäre auch eine Vielzahl an ökotoxikologischen Untersuchungen hinfällig, bei denen häufig Fische, z. T. frühe Entwicklungsstadien von Zebrabärblingen, Forellen oder Karpfen für den aquatischen Bereich, und Vögel wie Wachteln, Enten oder Tauben für den terrestrischen Testbereich eingesetzt werden. Lediglich die Qualität industrieller Abwässer wird heute ausschließlich durch eine alternative Testmethode an Fischeiern12 und nicht an ausgewachsenen Tieren ermittelt (Verordnung über Anforderungen an das Einleiten von Abwasser in Gewässer – Abwasserverordnung – (AbwV) vom 17.06.2004, letzte Änderung 5.9.2014. Nicht so bei der Herstellung von Chemikalien oder Arzneimittel.

Bei ökotoxikologischen Tests von Human-Arzneimittel werden nach der Ermittlung eines Wertes der sogenannten „Predicted Environmental Concentration“c und der Ermittlung der Umweltexposition in der zweiten Testphase, Stufe A, eine physiko-chemische Analyse und Effektstudien vorgenommen10. Für diese Effektstudien werden u.a. Organismen wie Kleinstkrebschen (Daphnien) im Reproduktionstest nach OECD Testguideline 211 und Fische (Early Life Stage) nach OECD Testguideline 210 eingesetzt. Empfohlen werden Zebrabärblinge. Die Tests können jedoch auch mit Reiskärpflingen, dem dreistachligen Stichling oder Forellen durchgeführt werden und damit die no-observed-effect-concentration (NOEC)d oder der PNECe ermittelt werden. Wird in der Phase 2 A ein Risiko festgestellt, erfolgen weitere Untersuchungen (Phase 2 B) u. a. mit Bakterien und Bodenorganismen13, 14.

Bei den veterinärmedizinischen Arzneimitteln werden in einem abgestuften Testsystem folgende aquatische Organismen eingesetzt15. Für den Bereich Süßwasser, also z.B. Flüsse und Seen, werden u.a. Daphnien im Immobilisierungstest (OECD Testguideline 202), und Fische im akuten Toxizitätstest (LC50)f Testguideline 203)) verwendet.

Für den Testbereich marine Habitate werden Copepoden (Hüpferlinge) oder andere Crustaceen im akuten Toxizitätstest (EC50, ISO 14669) sowie Fische im akuten Toxizitätstest (LC50) Testguideline 203)) eingesetzt.

Mutagenitäts- und Genotoxizitätstests

Auch bei der Herstellung neuer "grüner" Arzneimittelmoleküle muss der Hersteller nach den Vorgaben der ICH (International Conference on Harmonization) ein Test auf potenzielle Arzneimittelverunreinigungen durchführen16, 17. Daher werden Mutagenitätstests bzw. genotoxikologische Untersuchungen z.B. in Form des Ames-Test durchgeführt, ein Bakterientest nach OECD Testguideline 471 sowie ein in vitro Metaphase Chromosomen-Aberrationstest nach OECD Testguideline 47318. Mit den Tests soll ausgeschlossen werden, dass kleine Moleküle mit der DNA reagieren und zu Mutationen führen können. Beim Ames-Bakterientest haben die Bakterien die Fähigkeit zur Histidinsynthese verloren. Durch die Testsubstanz erfolgt eine Rückmutation der Bakterien. Sie können wieder Histidin autark synthetisieren. Bei beiden Tests handelt es sich zwar um in vitro-Tests, jedoch werden beim Ames-Bakterientest Lebermikrosomen der Ratte in einer als „S9-Mix“ bezeichneten Mixtur hinzugefügt, um die Reaktion zu "pushen". Sind die Ergebnisse der in vitro Studien jedoch positiv, müssen zwei weitere Studien in vivo durchgeführt werden. Getestet wird dann in Säugerzellen, z. B. mit dem vivo-Micronucleus-Test in der Maus.


„… Unser zentraler Ansatzpunkt ist das Konzept Benign by Design …“

Professor Dr. Klaus Kümmerer ist Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Kommissionen und Gremien, so z. B. der DFG-Senatskommission für Wasserforschung, als Vertreter der Gesellschaft Deutscher Chemiker im Management Board der EU Technologieplattform SusChem Europe19 und im Vorstand der Fachgruppe Nachhaltige Chemie in der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Zudem ist er Herausgeber und Mitherausgeber mehrerer internationaler wissenschaftlicher Zeitschriften. Professor Kümmerer erhielt 2009 den Recipharm International Environmental Award (Schweden) für seine Forschung über Arzneimittel in der Umwelt und nachhaltiger Pharmazie.

InVitroJobs sprach mit Prof. Kümmerer über Gewässerbelastungen durch Arzneimittel und seine Forschungsansätze zur Lösung dieser Problematik.

InVitroJobs: Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung genau? Mit welchen Methoden?

Prof. Kümmerer: Wir forschen im inter- und transdisziplinären Umfeld innerhalb der Fakultät für Nachhaltigkeit mit nationalen und internationalen Kooperationen im Themenfeld der nachhaltigen Chemie und Pharmazie. Dabei konzentrieren wir uns auf Umweltfragestellungen und nachhaltige Sichtweisen, die soziale und ökologische Aspekte im Kontext des Lebenszyklus chemischer Substanzen und Produkte einschließen. Einer unserer Schwerpunkte ist die Untersuchung des Verbleibs und der Vermeidung organischer Stoffe in der Umwelt und die Bewertung von chemischen Stoffen.

Dafür nutzen wir sowohl experimentelle Methoden als auch vor allem moderne, Computer-basierte Methodeng. Dabei geht es uns vor allem darum, wie organische Stoffe, wenn sie in die Umwelt gelangen, besser abbaubar gemacht werden können - und zwar schon bevor sie überhaupt produziert werden und auf den Markt kommen ("Benign by Design", "Design for the Environment"). Neben experimentellen Methoden der analytischen Chemie und der Umweltchemie sowie der Toxikologie und der Hydrologie wenden wir zunehmend Computer-basierte Methoden an (Struktureigenschaftsbeziehungenh, Dockingi, Ausbreitungsmodellierungj).

Wir untersuchen den Eintrag (identifizieren z.B. relevante Quellen) und die Verbreitung sowie das Verhalten (z.B. ein biologischer und photochemischer Abbau) von chemischen Stoffen in der aquatischen Umwelt im Sinne einer nachhaltigen Wasserwirtschaft. Daher sind wir auch sehr an der Erfassung ihrer Wirkung interessiert (z.B. Gentoxizität, Mutagenität, Bakterientoxizität). Derzeit stehen vor allem Pflanzenschutzmittel, Arzneimittel und Textilhilfsmittel im Zentrum unserer Arbeiten. Dabei gilt es, mögliche Folgeprobleme in den Blick zu nehmen, die z.B. auf dem unvollständigen Abbau der genannten Stoffe (abbaustabile Transformationsprodukte) in der Trinkwasseraufbereitung und Abwasserreinigung sowie der aquatischen Umwelt resultieren.

Davon ausgehend ist eine zentrale Frage, wie die Reduktion von Umweltbelastungen durch Chemikalien, Arzneimittelwirkstoffe und sie enthaltende Produkte schon zu Beginn ihres Lebenslaufs gezielt berücksichtigt werden können. Hierfür ist ein umfassendes Verständnis der Funktionalität, wie auch der Umwelteigenschaften von chemischen Stoffen und Produkten notwendig. Unser zentraler Ansatzpunkt ist dabei das Konzept „Benign by Design“. Es ist das gezielte Design neuer Chemikalien und Arzneimittel schon vor der Synthese, um eine nachhaltige Funktionalität zu erreichen.

InVitroJobs: Welche Erkenntnisse haben Sie damit erzielen können?

Prof. Kümmerer: Chemische Stoffe müssen nicht per se und unter allen Umständen stabil sein. Viel mehr gibt es Lebenswegstationen, an denen die Stoffe stabil sein müssen – unter den dort vorhandenen Bedingungen – und andere, an denen sie instabil, d.h. vollständig mineralisierbar sein müssen. Der Schlüssel ist, dass wir nicht unter Marketingaspekten an die Sache herangehen, also die Stabilität von Stoffen betrachten oder gar maximieren wollen, sondern in bestem chemischen Sinne die Reaktivität: Wo und unter welchen Bedingungen muss ein Stoff stabil sein und wo darf er es nicht sein.

InVitroJobs: Was versteht man unter "Benign Chemicals"?

Prof. Kümmerer: Es sind Chemikalien und Arzneimittel, deren Eigenschaften gezielt geplant werden, um ihre Funktion optimal erfüllen zu können (Wirksamkeit, Umweltverhalten etc.). Vor der ersten Synthese soll eine nachhaltige Funktionalität erreicht werden bei gleichzeitig schneller und vollständiger biologischer Abbaubarkeit nach Eintrag in die Umwelt. Folgeprobleme sollen dadurch vermieden werden.

InVitroJobs: Wie ist es derzeit um das Schicksal der Gewässer bestellt? Was ist das eigentliche Problem?

Prof. Kümmerer: Das eigentliche Problem aus chemische Sicht ist – im Gegensatz zu früher – die Verschmutzung mit einer Vielzahl an Stoffen in geringer Konzentration ("Spurenstoffe"). Hinzu kommen Produkte aus ihrem unvollständigen Abbau in Kläranlagen und Gewässern.

InVitroJobs: Warum sind die Reste aus den Abwässern so gefährlich? Was aus dem Urin ausgeschieden wird, ist doch im Allgemeinen wasserlöslich, reicht das nicht? Warum zersetzen sich die Stoffe nicht weiter?

Prof. Kümmerer: "Gefährlich" ist die Vielzahl der Stoffe und ihre zum Teil unbekannten Eigenschaften. Da es so viele und zum Teil unbekannte Stoffe sind (Abbauprodukte) ist eine wirkliche Risikoabschätzung wohl nie möglich. Letztlich verhindern diese Stoffe ein nachhaltiges Wasserressourcenmanagement.

InVitroJobs: Wie kann man denn eine Substanz biologisch abbaubarer machen?

Prof. Kümmerer: Wenn man weiß, welche Teile eines Moleküls den biologischen Abbau in der Kläranlage oder der Umwelt unter welchen Bedingungen fördern, kann man dies ausnutzen und bevorzugt solche Gruppen in Moleküle einbauen.

InVitroJobs: Warum zögert die Industrie, sich damit zu befassen? In der Risikobewertung wird doch auch auf Ökotoxikologie geprüft. Das müsste doch eigentlich attraktiv sein.




Auszug aus einem Ergebnis einer Computer-basierten Berechnung: rot gekennzeichnet sind die Molekülteile, die für die gesuchte Eigenschaft (z.B. eine bestimmte Toxizität oder fehlende Abbaubarkeit) verantwortlich sind. Der Forscher kennt damit den Grund für die Molekül- bzw. Substanzeigenschaft und überprüft ihn. Nun kann er an dieser Stelle das Molekül ggfs. verändern. Er designet ein neues (benignes) Molekül. Foto: Copyright: Leuphana Universität Lüneburg.


Prof. Kümmerer: Neue Konzepte bedeuten immer auch ein Umdenken – und da sind wir alle zunächst einmal konservativ. Hinzu kommt, dass bei der Verwendung neuer chemischer Stoffe ggfs. Produktionsprozesse und Produktzusammensetzungen verändert werden müssen und eventuell eine neue Zulassung brauchen. Eine kurzfristige Sichtweise hat dann nicht die mittel- und langfristigen neuen Chancen am Markt im Blick, sondern verharrt bei den alten.

InVitroJobs: Welche Möglichkeiten bieten sich für Studenten, die bei Ihnen eine Masterarbeit anfertigen möchten? Welche Qualifikation müssen sie mitbringen?

Prof. Kümmerer: Wir haben ganz unterschiedliche Ansätze und Fragestellungen in der nachhaltigen Chemie und Pharmazie – von der konkreten Untersuchung des Abbaus von Stoffen über die Nutzung von Chemieinformatikmethoden und Analytischer Chemie und Umweltchemie bis hin zu Fragen, wie beispielsweise das Konzept Benign by Design bessere Akzeptanz findet. Entsprechend unterschiedlich sind die möglichen Eingangsqualifikationen: von der Chemie und Pharmazie und ihren Teildisziplinen bis hin zu geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

Wichtig ist auf jeden Fall die Bereitschaft zu unkonventionellen Ideen und interdisziplinärem Arbeiten. Wir forschen daher in einem inter- und transdisziplinären Umfeld der Fakultät für Nachhaltigkeit. Dazu haben wir nationale und internationale Partnerschaften.

InVitroJobs: Wie meinen Sie, könnte man die ökotoxikologische Forschung und die tierversuchsfreie Forschung weiter voranbringen?

Prof. Kümmerer: Die bessere Akzeptanz und ein besseres Verständnis über Möglichkeiten und Grenzen der Computer-basierten Methoden wäre ein wichtiger Baustein.

InVitroJobs: Wir danken für das Gespräch.


Glossar:

a Mutagenität: vererbbare Veränderungen im genetischen Material
b Gentoxizität: eine Substanz beschädigt das genetische Material einer Zelle und beeinflusst damit die Zellintegrität.
c Predicted Environmental Concentration (PEC): Berechneter Wert einer Chemikalie in der Umwelt auf der Grundlage von Expositionsmodellen.
d No-observed-effect-concentration (NOEC): Die Konzentration der Testsubstanz, bei der kein schädigender Effekt festgestellt werden kann.
e PNEC (Predicted no effect concentration): vorausgesagte Konzentration eines Stoffes, bis zu der sich keine Auswirkungen auf die Umwelt zeigen.
f LC50 (Lethal Concentration 50): die ermittelte Substanzkonzentration, bei der 50 Prozent der Testorganismen gestorben sind.
g Computer-basierte Methoden: In silico-Methoden (z.B. QSAR) zur Eigenschaftsberechnung von Chemikalien und Arzneimittelwirkstoffen, Design of Benign Chemicals. Vorhersage der Zelltoxizität, Gentoxizität, Auftreten, Schicksal und Effekte von Chemikalien und Pharmazeutika in der aquatischen Umwelt.
h Struktureigenschaftsbeziehungen: Eine Beziehung zwischen einer pharmazeutischen, chemischen, biologischen oder physischen Eigenschaft eines Moleküls und seiner chemischen Struktur. Einfache Beispiele stecken hinter den Bezeichnungen für Stoffgruppen mit ähnlichen Eigenschaften wie Alkohole oder Aldehyde20.
i Docking (auch „molecular docking“): ist eine Methode, die die bevorzugte Hinwendung eines Moleküls zu einem anderen nach Bindung der beiden zur Bildung eines stabilen Komplexes vorhersagt.
j Ausbreitungsmodellierung: Computer-Modellierung der Ausbreitung von chemischen Substanzen, in diesem Fall in aquatischen Systemen.

Zusätzlich:

Benigne Moleküle: Der Begriff ist aus der Medizin bekannt: im Gegensatz zu malignen Tumoren (bösartige) sind benigne Tumore solche, die keine Tendenz zur aggressiven Ausbreitung oder zur Verschlimmerung zeigen. Genauso ist es bei den Molekülen (z.B. Arzneimittelwirkstoffe): sie sind so zu "konstruieren", dass sie die Anforderungen (an die Heilung oder Linderung) optimal erfüllen, aber gleichzeitig die von ihren ausgehenden Umweltgefahren möglichst gering sind. Sie sollen also schnell und vollständig abbaubar sein.


Literatur und Websites:

1 http://www.learngreenchemistry.com/John_Warner.html
2 http://www.chem.yale.edu/faculty/anastas.html
3 http://www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/arzneimittel
4 http://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2007_Stellung_Arzneimittel_in_der_Umwelt.html
5 http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/belastete-gewaesser-medikamente-sollen-biologisch-abbaubar-werden-a-966195.html, http://www.natur.de/de/20/Wie-Tourismus-die-Alpen-bewahrt,1,,1445.html
6 Damstra, T, Barlow, S, Bergman, A, Kavlock, R & Van der Kraak, G (2013): Global assessment of the state-of-the-science of endocrine disruptors. WHO, IPCS International Program on Chemical Safety. WHO/PCS/EDC/02.2 http://www.who.int/ipcs/publications/new_issues/endocrine_disruptors/en/
7 Klaminder, J., Jonsson, M., Fick, J., Sundelin, A. & Brodin, T. (2014): The conceptual imperfection of aquatic risk assessment tests: highlighting the need for tests designed to detect therapeutic effects of pharmaceutical contaminants. Environ. Res. Lett. 9. doi:10.1088/1748-9326/9/8/084003.
8 http://www.bipro.de/services/sustainability-innovationsustainability-innovation/
9 http://www.nachhaltigkeit.info/artikel/definitionen_1382.htm
10 http://www.oecd-ilibrary.org/environment/oecd-guidelines-for-the-testing-of-chemicals-section-2-effects-on-biotic-systems_20745761
11 http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/regulation/general/general_content_000400.jsp
12 DIN EN ISO 15088 (2009-06): Wasserbeschaffenheit - Bestimmung der akuten Toxizität von Abwasser auf Zebrafisch-Eier (Danio rerio) (ISO 15088:2007); Deutsche Fassung EN ISO 15088:2008, http://www.beuth.de/de/norm/din-en-iso-15088/113162875
13 EMEA, COMMITTEE FOR MEDICINAL PRODUCTS FOR HUMAN USE (CHMP) (2006): GUIDELINE ON THE ENVIRONMENTAL RISK ASSESSMENT OF MEDICINAL PRODUCTS FOR HUMAN USE. London. Doc. Ref. EMEA/CHMP/SWP/4447/00 corr 1
http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Scientific_guideline/2009/10/WC500003978.pdf
14 European Medical Agency: Questions and answers on 'Guideline on the environmental risk assessment of medicinal products for human use' (2010) EMA/CHMP/SWP/44609/2010
15 EMEA, Committee for Medicinal Products for Veterinary Use (CVMP) (2003): Guideline on Environmental Impact Assessment for Veterinary Medicinal Products Phase II. CVMP/VICH/790/03-Final. http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Scientific_guideline/2009/10/WC500004393.pdf
16 International Conference on Harmonisation of technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for human Use (2006): ICH Harmonised Tripartite guideline Impurities in new Drug Substances Q3A(R2). Genf.
17 International Conference on Harmonisation of technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for human Use (2011): ICH Harmonised Tripartite guideline Guidance on Genotoxicity Testing and Data Interpretation for Pharmaceuticals Intented for Human Use S2(R1).Genf.
18 http://www.oecd-ilibrary.org/environment/oecd-guidelines-for-the-testing-of-chemicals-section-4-health-effects_20745788
19 http://www.suschem.org/

Zusätzlich:

Die 12 Prinzipien der Green Chemistry: http://www.epa.gov/sciencematters/june2011/principles.htm
Sharon Munn & Marina Goumenou (2013): Key scientific issues relevant to the identification and characterisation of endocrine disrupting substances. Report of the Endocrine Disrupters Expert Advisory Group. JRC Scientific and Policy Reports. European Commission EUR 25919 – Joint Research Centre – Institute for Health and Consumer Protection.