Samstag, 01 Oktober 2022 14:00

Neues vom EUSAAT-Kongress Empfehlung

Vom 26. – 28. September fand nach Corona-Pausen wieder ein Kongress der European Society for Alternatives to Animal Testing in Linz statt. Endlich, nach zwei Jahren Coronabeschränkungen und zahllosen Meetings und Kongressen online, konnten sich Forscher:innen, Vertreter:innen von Regulationsbehörden und NGOs wieder persönlich begegnen und vor allem austauschen. Der Kongress war zum ersten Mal im neuen Gebäude der Medizinischen Fakultät der Johannes-Keppler-Universität in Linz organisiert worden.

Medizinische Fakultät der Johannes Kepler Universität in Linz.
Foto: Fivetonine, iStockphoto.com

 

Neues im Bereich Entwicklungsneurotoxizität und hormonwirksame Substanzen

Entwicklungsneurotoxische Chemikalien haben das Potenzial, die normale Entwicklung des Nervensystems zu stören, was die Entwicklung des Nervensystems beeinträchtigen kann. Deshalb plant die OECD die Testung Tausender Chemikalien und hunderter Pestizide. Dr. Martin Paparella, regulatorischer Toxikologe und für Österreich bei der OECD tätig, berichtet über die die Grenzen der behördlichen In-vivo-Prüfung und -Bewertung der Entwicklungsneurotoxizität (DNT). Im Tierversuch komme es zu einer hohen Variabilität der DNT-Standarddaten und die Übertragbarkeit vom Versuchstier auf den Menschen sei fraglich. Ein derartiger Nagetiertest benötigt rund 800 Nager pro Substanz, In einem Versuch mit Humanmaterial wurden 20 Chemikalien auf DNT getestet und Schäden gefunden, die zuvor im Tierversuch gar nicht detektiert worden waren. Zudem gäbe es funktionelle Unterschiede zwischen Nagetieren und die Beeinträchtigung des komplexen menschlichen Verhaltens durch eine entwicklungsneurotoxische Substanz ließe sich in Nagetieren gar nicht untersuchen. Stattdessen könnten integrierte Prüf- und Bewertungsansätze (IATAs) für DNT zu zuverlässigeren vergleichende Toxizitätsbewertungen für einen größeren Anteil von Chemikalien führen.

Prof. Dr. Ellen Fritsche vom Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung, Düsseldorf, stellte die gemeinsam mit internationalen Wissenschaftler:innen von Universitäten und der EFSA als Regulationsbehörde entwickelte Teststrategie vor. Inzwischen liegen Dokumente vor, die das methodische Vorgehen genau beschreiben und eine Anleitung zur Interpretation von Daten bietet, um sie für regulatorische Entscheidungen zu nutzen. Die Leistung der entwickelten Testbatterie könnte durch Schluss bestehender Lücken verbessert werden, zudem künstliche Intelligenz eingesetzt werden.

Dr. Katharina Koch aus der Arbeitsgruppe von Prof. Fritsche am IUF überraschte durch eine Ausweiterung des am Institut entwickelten in vitro-Testsystems mit Neurosphären auf Untersuchungen zu hormonwirksamen Substanzen. Endokrin wirksame Chemikalien greifen in die Hormonsysteme des Körpers ein, die Wachstum, Entwicklung, Fortpflanzung, Energie und Körpergewicht regulieren. Der Wissenschaftlerin gelang es, die in vitro-Kulturmodelle mit Frühstadien des sich entwickelnden Gehirns so zu modifizieren, dass potenziell hormonwirksame Substanzen an die passenden Rezeptoren binden und bestimmt werden können. Hieraus ließe sich eine vergleichbare Teststrategie wie im Falle der Entwicklungsneurotoxizität mit menschlichen Zellkulturen entwickeln, da Zellen der Ratte z.B. hormonwirksame Stoffe nur zur Hälfte anzeigen. Eine humanspezifische Teststrategie ist bitter nötig: Die OECD plant, unzählige Chemikalien auf eine mögliche Hormonwirksamkeit zu untersuchen, was mehr al 5 Millionen Tierversuche bedeuten würde.(1) Der Zellassay wird derzeit von PEPPER, einer gemeinnützigen Vereinigung und öffentlich-private Plattform mit Sitz in Paris, prävalidiert. Die Organisation widmet sich derartiger Aufgaben zur Charakterisierung endokriner Disruptoren. Sie wurde von der französischen Generaldirektion für Risikoprävention und Zusammenschlüssen von Kosmetik und Chemieunternehmen gegründet.

Die Toxikologin Iris Manga, zuständig für Pestizide bei der EFSA, berichtete von zwei Studien (OECD Fallstudien 262 und 263), bei denen die entwickelte Teststrategie zur Untersuchung auf Entwicklungsneurotoxizität zum Einsatz gekommen ist. Ziel war es, die Anwendbarkeit der In-vitro-Batterie (IVB) für die Prüfung der Entwicklungsneurotoxizität (DNT) im Rahmen der europäischen Pestizidverordnung (EU) 283/2013 und 1107/2009 zu zeigen. Es konnte die Brauchbarkeit der Teststrategie zur Gefahrencharakterisierung gezeigt werden. Eine OECD-Testrichtlinie dazu wird in 2023 veröffentlicht werden.

Dr. Sandra Coecke vom Joint Research Center der Europäischen Kommission berichtete über eine Fallstudie mit chronischen Auswirkungen von Pestiziden auf die Schilddrüse. Die Europäische Validierungsbehörde EURL ECVAM koordiniert die Validierung mehrerer In-vitro-Methoden, die sich auf verschiedene Wirkmechanismen von Schilddrüsen konzentrieren.  So z.B. über Deiodinasen: diese regulieren die Schilddrüsenhormon-Signalübertragung, indem sie die Schilddrüsenhormone aktivieren oder inaktivieren. Dies können sich die Wissenschaftler:innen in in vitro-Tests zunutze machen. Eine gewisse Anzahl an In-vitro-Tests sollen zu einer Testbatterie kombiniert werden können.

Einzigartige Professur für den evidenz-basierten Übergang zu tierfreien Innovationen

In ihrer Eröffnungsrede erläuterte Prof. Dr. Merel Ritskes-Hoitinga, Inhaberin des bislang einzigartigen Lehrstuhls für den evidenzbasierten Übergang zu tierfreien Innovationen an der Universität in Utrecht, Niederlande, die historischen Rechtsgrundlagen für Tierversuche. Diese basierte auf den Katastrophen in den 30er Jahren in den USA, nachdem Menschen durch ein in Frostschutzmittel gelöstes Antibiotikum vergiftet worden waren, und den 60er Jahren in Europa durch die Contergan-Affäre. Jedoch hätten die FDA-Regularien nicht zu einer erhöhten Arzneimittelsicherheit geführt. Jedoch entspräche der Tierversuch nicht mehr dem Stand der Technik. Zeitgemäß seien dagegen 3D-Zellkulturen, Organoide, biologisch gedruckte Gewebe, Computermodelle oder Organchiptechnologien. Im Gegenteil zu langen Tierversuchsprozeduren hätte eine verkürzte Zulassungszeit für Covid-19-Impfstoffe zu einer wirksamen Bekämpfung der Sars-Cov-2-Epidemie geführt mit weniger Tierversuchen, indem die Regulationsbehörden auf die Batchtests der messenger-RNA-Impfstoffe mit Tieren verzichtet hätten. Auf diesem Weg müsse weiter vorangeschritten werden.



Prof. Dr. Merel Ritskes-Hoitinga, Inhaberin des bislang einzigartigen Lehrstuhls für den evidenzbasierten Übergang zu tierfreien Innovationen an der Universität in Utrecht.

Foto: Christiane Hohensee


Es brauche eine Zusammenarbeit der Wissenschaft mit den Regulationsbehörden, vor allem aber auch eine transdisziplinäre Zusammenarbeit auch mit der Gesellschaft sowie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unter den Wissenschaftler:innen. Die Pharmaindustrie trägt diese Entwicklungen aktiv mit, so dass diese ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht hätten, auf diesem Weg weiter fortzufahren. Die EMA hänge dagegen an den Tierversuchen, da sie das Risiko scheue, auch wenn Tierversuche diese Risiken beinhalten.

Eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen den Pharmafirmen und den Regulationsbehörden fördert das Versprechen, durch neue Alternativen mit weniger Tieren schneller und effektiver neue Impfstoffe zu entwickeln. Notwendig sei eine Finanzierung der Methodenentwicklung, gefolgt von Schulung und Training dieser Methoden. Die Kenntnisse bewirkten dann ein Umdenken unter den Wissenschaftler:innen; mit den neuen Methoden gewinnen sie neue Geschicklichkeiten. Die Forschung muss sich jedoch auch mit den schlechten Versuchsergebnissen aus Tierversuchen auseinandersetzen. Am Ende erfolgt ein Umdenken in der gesamten wissenschaftlichen Community. Dafür haben die Niederlande das Partnerprogramm TPI (Transition Programme for Innovation without the use of animals) entwickelt. Es dient der Beschleunigung der Umsetzung von tierfreien Innovationen in Arzneimittelentwicklung, bei der Food Safety- und Chemikalienbewertung. Zusammengeschlossen haben sich hier 10 Ministerien, Nationale Institute und Akademien, gesellschaftliche Gruppierungen und Industriezusammenschlüsse zur Zusammenarbeit trotz unterschiedlicher Voraussetzungen. Für neue Innovationen z.B., die noch nicht anerkannt bzw. validiert worden sind, sollen andere Vergleichsreferenzen gefunden werden als der Tierversuch.

Prof. Ingrid J. Visseren-Hamakers von der Radboud Universität stellte ein Forschungsprojekt für tierfreie Sicherheitsbewertungen vor. Es wird von der Niederländischen Forschungsgemeinschaft finanziert und läuft von 2023-2027. Ziel ist es, den Übergang zu einer tierfreien Sicherheitsbewertung von Chemikalien und Arzneimitteln in den Niederlanden, der EU und den USA zu schaffen, indem das Verständnis entwickelt wird, wie der Übergang geregelt werden soll.

Niederlande: Transition Programme for Innovation without the use of animals

Das niederländische TPI (Transition Programme for Innovation without the use of animals) will den Übergang zur tierversuchsfreien Innovation, wie Organ-on-a-Chip oder künstlicher Intelligenz beschleunigen. Seit 2018 streben die Partner des Programms aus Regierung, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft die Entwicklung verschiedener Methoden im Bereich der Sicherheit von Chemikalien sowie der Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten an. Ziel ist es, Raum für Modellentwicklungen zu schaffen und das Vertrauen in diese Methoden zu stärken. Den Kern des TPI bilden zehn Partner, die sich zusammengeschlossen haben, um das Ziel der Niederlande zu erreichen, beim internationalen Übergang zu tierversuchsfreien Innovationen eine Vorreiterrolle zu spielen. Eine Mischung aus verschiedenen Forschungsbereichen, Sektoren, Technologien und politischen Dossiers erhöhen die Chancen für tierfreie Innovationen. Für das Partnerprogramm ist das Ministerium für Landwirtschaft, Natur und Lebensmittelqualität zuständig. Es organisiert regelmäßige Konsultationen zwischen den Partnern und erleichtert auch die Konsultation mit anderen Ministerien, die sich mit Alternativen zur Tiernutzung und tierfreien Innovationen befassen.

2022 wurde „TPI Young“ gegründet, eine Gruppe motivierter junger Fachleute, Doktorand:innen und Studierenden mit unterschiedlichem Studien- und Berufshintergrund aus den Niederlanden, aber auch anderer europäischer Länder, vor allem Deutschland und Belgien. Sie verbindet das Bestreben, zur Beschleunigung des Übergangs zu Innovationen ohne Versuchstiere beizutragen, indem sie anderen jungen Menschen Anregungen geben und sie frühzeitig für tierfreie Optionen sensibilisieren. Weiterhin bauen sie ein Netzwerk auf und stellen einen Raum für den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen Menschen bereit, die mit tierfreien Innovationen arbeiten und/oder daran interessiert sind. Sie bieten Unterstützung bei der beruflichen Entwicklung, verschaffen sich innerhalb der bestehenden Strukturen Gehör und suchen nach neuen Kooperationen. Sie veranstalten mindestens zweimal im Jahr Aktivitäten, über die sich Interessierte auf der LinkedIn-Seite von TPI oder über das Registrierungsformular der Webseite informieren können. Young TPI freut sich über neue Mitglieder aus ganz Europa und auch weltweit.

Das 3R-Zentrum in Gießen (Interdisciplinary Centre for 3Rs in Animal Research, kurz ICAR3R) hat ein 3R-Skills Lab "Improve your Skills" für (angehende) Forscherinnen und Forscher eingerichtet. Das Hauptziel ist, für die 3R zu sensibilisieren und die Bereitschaft zu fördern, den Einsatz von Tiermodellen zu überdenken. Kenntnisse und Fähigkeiten werden durch die Arbeit an Stationen vermittelt.

Politische Entwicklungen noch verbesserungswürdig

Auch über politische Entwicklungen in der EU wurde informiert. So berichtete Dr. Laurence Walder von der Eurogroup for Animals über eine Analyse zur Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie durch die europäischen Mitgliedstaaten. Hier gibt es zahlreiche Bereiche, in denen Verbesserungen, vor allem bei der Transparenz, vorgenommen werden sollten. Z.B. gäbe es eine Lücke bei den Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass die 3R befriedigend berücksichtigt werden und ausreichend Kontrollen durchgeführt werden. In Ausbildung und Training fehlt die Transparenz zu den Kursinhalten, der Qualifikation und der Dauer der Kurse. In vielen Mitgliedstaaten haben die Projektbewerter:innen einen tierversuchskundlichen Hintergrund und sind selten Expert:innen für tierversuchsfreie Methoden. Neben Experten auf diesem Gebiet sollten auch Tierschützer oder Patientenrechtler:innen in die Bewertungsprozesse eingebunden sind.

Dr. Luisa Bastos, Animal in Science-Programmleiterin der Eurogroup for Animals kritisierte, dass trotz der Unterstützung eines schrittweisen Übergangs zu einer tierfreien Wissenschaft durch das EU-Parlament und die europäischen Bürger die gegenwärtige EU-Politik diese Verpflichtung nicht einlöst.

Dr. Samatha Saunders von Cruelty Free International berichtete, dass ein Vergleich der sogenannten RAT-Liste ergeben hat, dass 10 verschiedene Tierversuche noch durchgeführt werden, obwohl bereits eine anerkannte Alternative vorhanden ist. Eine konsequente Anwendung der neuen Methode könnte EU-weit 1,5 Millionen Tiere in der EU einsparen.

Langzeittoxizität

Prof. Mathieu Vinken von der Vrije Universität Brüssel berichtete über das europäische Projekt ONTOX, das im Mai 2021 gestartet ist, um eine sogenannte "generische Strategie" zur Entwicklung tierfreier Methoden (NAMs) für die wiederholte (Langzeit)testung von Substanzen auszuarbeiten. Datengrundlage bilden bereits verfügbare biologische/mechanistische, toxikologisch/epidemiologische, physikalisch-chemische und kinetische Informationen. Werden Datenlücken durch eine künstliche Intelligenz identifiziert, so werden sie mit gezielten In-vitro- und In-silico-Tests geschlossen.

Neuigkeiten von 3R Schulungsplattformen

Dr. Susanna Louhimies, Mitglied der Generaldirektion Umwelt der Europäischen Kommission, berichtete darüber, dass derzeit 13 neue E-Learning-Module für die Informationsplattform ETPLAS - Education and Training Platform for Laboratory Animal Science – entwickelt werden. Denn während Ausbildung und Training gemäß der EU-Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftlichen Zwecke verwendeten Tieren in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt, gibt die EU einen Rahmen vor. Die Teilnahme ist jedoch freiwillig. Bisher sind zwei der sechs englischsprachigen Module für den Ersatz von Tierversuchen relevant: „EU-52: Searching for (existing) non-animal alternatives“ und „EU-60: Developing in vitro methods and approaches for scientific and regulatory use”. Weiterhin werden Lehrmaterialien für die Vermittlung der 3R-Prinzipien für die Sekundarstufe sowie Studierende der ersten Semester entwickelt sowie Informationen über Karrieremöglichkeiten im Bereich der 3R bereitgestellt.

In silico: neue Methoden am Computer

Dr. Ignacio Tripoldi hat seine neue Forschungsarbeit im Bereich in silico vorgestellt. Darin hat er bereits veröffentliche Adverse Outcome Pathways in testbare Hypothesen umgewandelt. Beim Konzept der Adverse Outcome Pathways führen biologische Vorgänge (Zellrezeptorbindungen von Molekülen) über mehrere Teilschritte zu schädlichen Effekten im Organ, Organismus oder einer Population. Die Konzeption ist wichtig bei der neuen Sichtweise auf die Risikobewertung und die Umsetzung von neuen tierfreien Methoden in den Gifitigkeitsprüfungen. Genutzt hat der Wissenschaftler dafür ein Teilgebiet der Artificial Intelligence genannt Natural Language Processing (NLP). Dieses soll Computer in die Lage versetzen, menschliche Sprache zu verstehen, zu interpretieren und zu manipulieren. Ziel ist es, das Informationspotenzial der AOPs zu maximieren und für einen Hypothesentestung nutzbar zu machen.

Mieke van Mulders informierte über den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Datenbank RE-Place in Belgien. Sie basiert auf der alten ECVAM Datenbank DB-Alm, das Template wurde aber neu konstruiert. Die an neuen tierfreien Methoden arbeitenden Wissenschaftler:innen sollen ihre Informationen selbst in die Datenbank eingeben. Derzeit sind bereits über 200 Methoden aus den Bereichen Grundlagenforschung, translationale/angewandte und Edukation eingegeben worden. Die meisten sind peer reviewed publiziert. Derzeit beschränkt sich die Datenbank auf Belgien, soll aber später europaweit nutzbar sein.

Umwelttoxizität

Dr. Stefan Scholz vom Umweltforschungszentrum in Leipzig ist Spezialist für Embryotoxizitätstests mit Fischen (FET-Test). Der Fischembryo-Test (OECD 236) bestimmt die akute oder letale Toxizität von Chemikalien auf Embryonalstadien von Zebrafischen. Frisch befruchtete Eier werden den Testsubstanzen für insgesamt 96 Stunden ausgesetzt und die Embryonen dann untersucht. Um den FET in der Chemikalientestung zu nutzen, muss er im Beweiskraftverfahren eingesetzt werden (WoE-Approach). Beim WoE-Ansatz werden interpretative Methoden zur Integration von Daten genutzt. Die Informationen müssen unmittelbar einleuchtend oder nachvollziehbar und keines Beweises bedürftig (evident) sein. Um die Aussagekraft des FET zu erhöhen, hat der Wissenschaftler ein Bayessches Netzwerk entwickelt, mit dem eine Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, z.B. eine potenzielle Neurotoxizität vorhergesagt werden kann.

Prof. Dr. Cinta Porte vom Institute of Environmental Assessment and Water Research in Barcelona hat die Umweltauswirkungen von Kunststoffzusätzen wie Phthalaten in Leberspheroiden von Fischen untersucht. Durch eine Mischung mehrerer derartiger Zusätze werden in den Zellen reaktive Sauerstoffspezies erzeugt, die in den Zellen Schaden anrichten können.

Human-relevante tierfreie Methoden wesentlich für COVID-19-Forschung

Ein Hauptmerkmal des SARS-CoV-2-Coronavirus ist, dass es mehrere menschliche Organe infizieren und schädigen kann. Derzeit ist keine Tierart bekannt, in der die komplexen Symptome oder die schwere COVID-19-Krankheit hervorgerufen werden können. Daher sind NAMs für die Erforschung der Pathogenesemechanismen des Coronavirus sehr wichtig. So zeigte die Arbeit von Prof. Stefan Hippenstiel von der Charité anhand von infizierten menschlichen Lungen-Explantaten und menschlichen Lungenorganoiden, dass die schwere Lungenschädigung wahrscheinlich auf eine von Makrophagen ausgelöste Immunaktivierung und nicht auf eine direkte Schädigung der Lungenbläschen zurückgeht.

Claus-Michael Lehr, Professor für Biopharmazie und Pharmazeutische Technologie der Saarland-Universität arbeitet zum Thema Wirkstofftransport von Arzneimitteln zum Ort ihrer Bestimmung. Dafür hatten er und sein Team die letzten Jahre die zu überwindenden Barrieren z.B. der Lunge in-vitro entwickelt und den Arzneimitteltransport in Nanopartikeln erfolgreich erforscht. In der vorgestellten Arbeit hat das Team untersucht, ob die Wirkstoffe im Organismus, in diesem Fall in einem Bakterium – landen und dieses dort abtöten können. Dies wäre wichtig für Patienten, die unter Mukoviszidose leiden. Dies ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung, bei der der Salzhaushalt gestört und körpereigene Sekrete zähflüssig sind, was z.B. zu einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion mit ständigem Husten, Atemnot und regelmäßigen Infekten führen kann.  

Eine wichtige Arbeit hat auch Doktorandin Jana Wächter vom Institut für Pharmazeutische Technologie der Goethe-Universität Frankfurt vorgestellt. Bakterien, die Biofilme bilden, stellen ein medizinisches Problem dar. Die in dieser Schleimschicht eingebetteten Bakterien sind vor Angriffen des Immunsystems geschützt und macht sie unempfindlicher gegen Antibiotika. Die Nachwuchs-forscherin, die auch eine der 17 Preisträgerinnen des Young Scientist Travel Awards ist, ist es gelungen, ein dreidimensionales in vitro-Biofilm-Wundmodell auf menschlicher Haut für die Forschung und Wirkstoffentwicklung herzustellen.

Prof. Jens Kurreck von der Technischen Universität Berlin hat sich auf den 3D-Druck von organähnlichen Systemen spezialisiert, wobei die Organe nicht organähnlich aussehen, aber funktionell sind. Hier wurde ein Infektionsmodell der Lunge vorgestellt. Die menschlichen Fibroblasten, Lungen- und Immunzellen sind in Alginat, Gelatine und – Matrigel – eingebettet, wobei letztgenanntes leider derzeit noch vom gereinigten Sekret einer bösartigen Krebszelllinie der Maus stammt. Das Modell kann auch für die Covid-19-Forschung genutzt werden.

Innovative in vitro- und Organ-on-Chip-Modelle

Die Nachwuchswissenschaftlerin Dr. Pauline Zamprogno von der Universität Bern ist eine der Preisträger:innen des Young Scientists Travel Awards, mit dem  EUSAAT die Teilnahme von jungen Wissenschaftlern am EUSAAT-Kongress fördert. Sie berichtete über ein in-vitro Lungenfibrosemodell, das IPF (idiopathische pulmonale Fibrose)-on-a-Chip. Die IPF ist eine chronische, fortschreitende und schwere Lungenerkrankung. Vorhandene Maus- und in-vitro-Modelle sind oft nicht in der Lage, die Auswirkungen von Medikamenten in klinischen Studien vorherzusagen. Das IPF-on-a-chip Modell ahmt einige wichtige Merkmale der Lungenfibrose in einem frühen und späten Stadium in Bezug auf die zelluläre Zusammensetzung, der extrazellulären Matrix und der neuartigen biologischen Membran nach. Die vollständige biologische Natur macht das Modell zu einem vielversprechenden Instrument für die Arzneimittelforschung.

Léa Todeschini von Alveolix, einem Schweizer Organs-on-Chip Unternehmen, berichtete über das AlveoliX Barrier-on-Chip System, das die Dynamik menschlicher Organbarrieren nachbildet. Mit dem System können eine breite Palette biologischer Barrieren modelliert werden . Menschliche Zellen werden auf jeder Seite einer ultradünnen porösen Membran als Mono-, Co- oder Multikulturen gezüchtet, einschließlich immunkompetenter Zellen. Die Differenzierung der Zellen wird dann durch 3D-Bewegungen stimuliert. So konnten mit menschlichen primären Lungen- und Darmzellen dynamische Lungen- und Darmbarrieren auf Chips erzeugt werden, darunter auch ein Infektionsmodell mit dem Erreger von Lungenentzündungen. Die fortschrittlichen in-vitro-Modelle ermöglichen Wirksamkeitsstudien und akute Toxikologie-Analysen und haben somit das Potenzial, unsichere Medikamente frühzeitig in der Phase der Arzneimittelentwicklung zu erkennen und Tierversuche zu reduzieren oder sogar zu ersetzen. In einer Einzelfallstudie mit einer Pharmafirma konnten vergleichbare toxikologische Effekte wie in Tierversuchen festgestellt werden.

Tine Haesen von der Universität Bielefeld und dem Fraunhofer Institut für Toxikologie and Experimentelle Medizin in Hannover berichtete über humane präzisionsgeschnittene Lungengewebeschnitte als ein ideales ex-vivo Modell, das die bisherigen in-vitro und in-vivo Experimente überflüssig machen kann. Mit den Schnitten von Lungen bzw. Lungentumoren können verschiedene Immunzellen analysiert und Zielmoleküle für die Krebstherapie validiert werden. Die Gewebeschnitte bewahren die ursprüngliche mikroanatomische 3D-Architektur der menschlichen Lunge und gewährleisten den Verbleib aller Immunzellen in ihrer komplexen Mikroumgebung.

Prof. Armin Wolf vom Schweizer Unternehmen InSphero stellte ein 3D-Leber-Mikrogewebe zur Vorhersage von Arzneimittel-induzierten Leberschädigungen vor. Diese sind eine der Hauptursachen für die Rücknahme bereits zugelassener Arzneimittel und stellen eine große Bedrohung für menschliche Patienten dar. 90 % der Arzneimittelkandidaten, die sich in Tiermodellen nicht als lebertoxisch erwiesen haben, scheitern in klinischen Studien aufgrund von Leberschädigungen und mangelnder Wirksamkeit. Tierversuche können die Lebertoxizität von Arzneimitteln bei Menschen aufgrund der Speziesunterschiede nicht genau vorhersagen. Insphero entwickelte das 3D InSight™ Leber MPS (mikrophysiologische System), ein standardisiertes Hochdurchsatz-In-vitro-Modell auf Basis von drei menschlichen, in der Leber vorkommenden Leberzelltypen. Die 3D-Co-Kultur weist die wesentlichen strukturellen und funktionellen Merkmale der nativen Leber auf. Mit den sogenannten Leberspheroiden konnte die Wirkung 63 stark leberschädigender Medikamente sehr genau vorhergesagt werden, mit einer Sensitivität von 90,3 % und einer Spezifität von 81,3 %. Somit ist es ein nützliches Werkzeug zur Sicherheitsbewertung in der Arzneimittelentwicklung und eignet sich auch für mechanistische Studien und in späteren Phasen der Arzneimittelentwicklung zur Bestimmung komplexer Schädigungsmuster.

Ein weiteres vorgestelltes in-vitro-Modell zur Vorhersage von Lebertoxizität ist das mikrofluidische Modell des deutschen Unternehmens Dynamik42. Die Forscher nutzen ein mikrofluidisches Organ-on-a-Chip Modell basierend auf menschlichen Blutgefäß-, Leber- und Immunzellen. Durch die Blutgefäß-ähnliche Struktur wird eine blutähnliche Substanz mit der entsprechenden Medikamentenkonzentration durchgeleitet. Mit dem Lebermodell konnte die Toxizität eines zurückgenommenen Medikaments reproduziert werden, die in Studien an Mäusen nicht ohne die Zugabe von entzündlichen Co-Stimuli nachweisbar war.

Dr. Brigitta Loretz vom Helmholtz Institut für Pharmazeutische Forschung, Saarland, berichtet über ein komplexes In-vitro-Modell der entzündeten Darmschleimhaut zur Erforschung neuer Arzneimittel. Das Modell ahmt die Pathophysiologie chronischer Darmerkrankung wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa nach. Die zahlreichen Mausmodelle haben aufgrund unterschiedlicher Organphysiologie und Krankheitsmanifestationen sowie Unterschiede in der Immunantwort nur eine geringe Aussagekraft für die menschliche Erkrankung. Das vorgestellte durchlässige-Darm-(Leaky-Gut)-Modell verfügt über eine dysfunktionale Epithelbarriere und immunkompetente Zellen in einer physiologisch relevanten Mikroumgebung. Es ermöglicht Untersuchungen, zur Darmschranke sowie zur Wirksamkeit und der gezielten Verabreichung von Medikamenten und Trägermolekülen.

Die Arbeitsgruppe von Sascha Mendjan des Instituts für Molekulare Biotechnologie in Wien hat humane Herz-Organoide, sogenannte Kardioide, entwickelt, die die Entwicklung und Defekte des Herzens widerspiegeln. Die häufigste Ursache für den Tod von menschlichen Föten sind Fehler in der Herzentwicklung. Bisherige in-vitro-Modelle können nicht die spezialisierten Funktionen der verschiedenen Herzkompartimente erfassen. Mit den Kardioiden kann erstmals die Entwicklung der wichtigsten embryonalen Herzkompartimente mit in-vivo-ähnlichen Genexpressionsprofilen, Morphologien und Funktionen rekapituliert werden. Die Forscher können damit untersuchen, wie genetische und Umweltfaktoren Defekte im sich entwickelnden menschlichen Herzen verursachen.

Entwicklungen bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung

Nick Jukes von InterNiche stellte seine produzierte Dokumentarfilmreihe über tierleidfreie Innovationen in der Aus- und Weiterbildung von Tierärzt:innen dar. Die  Hauptzielgruppe der Filmreihe sind Kursleiter:innen, Abteilungsleiter:innen und Studierende. Der Dokumentarfilm basiert auf Besuchen an Universitäten weltweit. Vorgestellt werden ausgewählte Fakultäten, die an der Spitze des fortschrittlichen Wandels in der tiermedizinischen Lehre stehen. Der Film enthält Interviews mit Dozenten, Studierenden und Produzenten. Demonstrationen und Studentenpraktika veranschaulichen den Einsatz der Methoden, von der vergleichenden Anatomie bis zur Bauch-Chirurgie. Die Palette der Instrumente umfasst virtuelle Labore, Simulationssoftware für Anatomie, Physiologie und Pharmakologie, Tierkörperspendenprogramme, synthetische Modelle, Simulationsmodelle für klinische und chirurgische Fertigkeiten und Szenarie-basierte simulierte Kliniken für die innere Medizin. Der Dokumentarfilm bietet einen umfassenden Überblick und mehrere Fallstudien über humane Instrumente zur besseren Erfüllung der Lehrziele. Er untersucht die pädagogischen, wissenschaftlichen, ethischen, wirtschaftlichen und ökologischen Vorteile dieser Innovationen. Gezeigt wurde ein kurzer Ausschnitt zum Hunde-Chirurgiemodell von Syndaver (siehe Abb. 3), mit dem die hochriskanten Eingriffe im Bauchraum trainiert werden können.

Ziel des von Dr. David Pamies (Universität Lausanne und Schweizer Zentrum für Angewandte Humane Toxikologie, Basel) vorgestellten Projekts „Förderung des 3R-Bewusstseins bei einem jungen Publikum“ ist es, kritisches Denken bei Schüler:innen der Sekundarstufe anzuregen und für Tierversuche und die Bedeutung des 3R-Prinzips zu sensibilisieren. Das Projekt stellt Lehrmaterial zur Verfügung und bietet unter anderem einen Workshop für Lehrkräfte, wie man das 3R-Prinzip unterrichtet. Es führte Veranstaltungen mit Mittelschulklassen durch, organisierte Vorträgen von Wissenschaftler:innen und regte zum Beurteilen und Diskutieren an.

Die Tierärztliche Hochschule Hannover und die Philipps-Universität Marburg arbeiten an dem Projekt 3R-SMART, einer 3R-Schulungs-Plattform, vorgestellt von Dr. Melissa Valussi, um die 3R-Forschungsaktivitäten von verschiedenen Stakeholdern zu unterstützen. Kernstück ist die im Aufbau befindliche Plattform www.3R-smart.de, die Schulungswerkzeuge für Studierende, Wissenschaftler:innen, technisches Personal, öffentliche Einrichtungen, Regulierungsbehörden, Unternehmen und Ethikkommissionen zur Verfügung stellt. Weiter  geplant sind 3R-Seminare, ein Lehrplan, der in Lehrveranstaltungen der Labortierkunde integriert werden kann und der Aufbau eines europaweiten 3R-Netzwerks.

(1) https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2022-03/55633972-huge-increase-in-animal-testing-numbers-predicted-by-cruelty-free-europe-under-plans-for-new-eu-chemicals-regime-008.htm