Freitag, 23 August 2024 14:50

Mailand: Neues ZNS-Modell zur Untersuchung der Multiplen Sklerose Empfehlung

Forscherinnen und Forscher aus Italien und den USA haben ein neues, vereinfachtes immunkompetentes Hirnorganoidmodell entwickelt, mit dem sich die entzündliche Neurodegeneration bei multipler Sklerose untersuchen lässt.


Die Rolle der Gliazellen des Zentralnervensystems bei der Aufrechterhaltung einer autonomen Entzündung und dem Fortschreiten der Multiplen Sklerose (MS) ist ein wichtiger Untersuchungsaspekt. Deshalb hat das Forschungsteam unter der Leitung der Neurowissenschaftlerin Marina Absintha, PhD, vom IRCCS San Raffaele Scientific Institute in Mailand Vorderhirn-Organoide mit Neuronen, Astrozyten, Oligodendroglia und - für die Immunkompetenz - aus menschlichen induzierten pluripotenten Stammzellen abgeleitete Mikroglia entwickelt.

MS ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das gesamte Gehirn und Rückenmark betreffen kann. Hinsichtlich der Krankheitsmechanismen ist heute klar belegt, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Die Ursachen der Multiplen Sklerose sind zwar noch nicht in allen Details bekannt, es gibt jedoch sowohl eine genetische Komponente mit einer Vielzahl immunologisch relevanter Gene als auch Umweltfaktoren, die eine Rolle spielen. Symptome sind oft Gefühlsstörungen, Lähmungen, Seh- und Gleichgewichtsstörungen und Müdigkeit (Fatigue). Im Verlauf auch Depression, Blasen- und Mastdarmstörungen, Schmerz, Spastik und kognitive Einschränkungen.
Grafik: Computer-generiert


Über einen Zeitraum von 8 Wochen bildeten die Organoide reproduzierbar reife Zelltypen des Zentralnervensystems aus. Sie wiesen zelluläre Transkriptionsprofile auf, die denen des erwachsenen menschlichen Gehirns ähnelten. Nun wurden die Organoide entzündlicher Liquorflüssigkeit von MS-Patienten ausgesetzt. So ließ sich die Neurodegenration beobachten: Die Zelltypen des Modells ahmten die neurodegenerativen Makroglia-Mikroglia-Phänotypen sowie die interzelluläre Kommunikation bei chronisch aktiver Multipler Sklerose korrekt nach. Die Oligodendrozyten waren bereits am 6. Tag nach der Exposition um fast 50 % zurückgegangen.

Mit der vereinfachten, dreidimensionalen In-vitro-Plattform wollen sie ihr Verständnis nach und nach erweitern, indem sie Hypothesen testen, die aus menschlichen Assoziationsstudien abgeleitet wurden. Die Skalierbarkeit von hiPSC-abgeleiteten Organoiden ermöglicht auch das Screening genetischer Aspekte, um die wichtigsten Schlüsselregulatoren der menschlichen Myelinisierung zu identifizieren.  

Bislang wurde das Modell zwar gründlich charakterisiert, die Untersuchungen beschränkten sich jedoch bislang auf fünf verschiedene Zelllinien, die von zwei nicht-neurologischen Kontrollpersonen und drei MS-Fällen stammen. Eine Erweiterung der Zahl der Spender ist angedacht, insbesondere um morphologische und transkriptionelle Unterschiede zwischen MS-Patienten und Kontrollpersonen beurteilen zu können.

Das Wissenschaftsteam ist überzeugt, dass ihr MS-Entzündungsmodell zukünftig geeignet sein kann, ein Arzneimittelscreening durchzuführen mit dem Ziel, die entzündliche Neurodegeneration von MS-Patientinnen und -Patienten zu stoppen.

Originalpublikation:
Fagiani F, Pedrini E, Taverna S, Brambilla E, Murtaj V, Podini P, Ruffini F, Butti E, Braccia C, Andolfo A, Magliozzi R, Smirnova L, Kuhlmann T, Quattrini A, Calabresi PA, Reich DS, Martino G, Panina-Bordignon P, Absinta M. A glia-enriched stem cell 3D model of the human brain mimics the glial-immune neurodegenerative phenotypes of multiple sclerosis. Cell Rep Med. 2024 Aug 20;5(8):101680. doi: 10.1016/j.xcrm.2024.101680. Epub 2024 Aug 8. PMID: 39121861.